Forderungen Intergeschlechtliche Menschen e.V.

Intersexuelle Menschen, die sich als Intersexuelle, Hermaphroditen, Inter* oder Zwitter bezeichnen, wurden in unserer Gesellschaft, die nur „Männer“ und „Frauen“ anerkannte, juristisch, politisch und sozial unsichtbar gemacht. Als „abnormal“ klassifiziert, werden ihre gesunden Körper zum medizinischen Notfall erklärt: Ohne die Einwilligung der intersexuellen Menschen selbst werden in der Regel im Kindesalter kosmetische Genitaloperationen an ihnen vollzogen, um das Genital zu „vereinheitlichen“. Dabei wird in Kauf genommen, dass das sexuelles Empfinden vermindert oder gänzlich zerstört wird. In der Vergangenheit wurden intersexuelle Kinder systematisch ihrer Fortpflanzungsfähigkeit zumeist durch Kastration beraubt. Eine solche Wegnahme der gesunden, hormonproduzierenden inneren Organe und eine lebenslange Substitution mit körperfremden Hormonen löst gesundheitliche Problemen aus, deren Versorgung sich niemand in der Lage sieht. Die meisten Opfer dieser Praxis tragen massive psychische und physische Schäden davon, unter denen sie ein Leben lang leiden. Medizinische Studien belegen dies (Hamburger Intersex-Studie 2007) und das Leiden, das durch solchen Tun ausgelöst wurde, hat durch den Dialog und die Prüfung des Deutschen Ethikrates in der Stellungnahme von 2011 seine traurige Bestätigung gefunden.

Menschen mit einer Besonderheit der geschlechtlichen Entwicklung sind ein Teil unserer Gesellschaft und haben als gleichberechtigte Bürger ein Recht auf freie Entfaltung und Entwicklung sowie auf gleichberechtigte Teilhabe am Leben. Die an ihnen begangenen medizinisch nicht notwendigen, traumatisierenden Zwangsbehandlungen stellen einen erheblichen Verstoß gegen ihr Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit, Selbstbestimmung und Würde dar. Es ist an dieser Stelle auf die Schatten- und Parallelberichte sowie den abschliessenden Empfehlungen der UN-Ausschüsse der letzten Jahren zu verweisen (siehe Parallelberichte). Um künftige Opfer dieser menschenrechtswidrigen Praxis zu verhindern und die bestehenden Opfer soweit als möglich zu entschädigen und zu rehabilitieren, stellt der Verein Intersexuelle Menschen e.V. folgende Forderungen auf:

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Keine nicht lebens- oder gesundheitsnotwendigen Eingriffe ohne informierte Einwilligung der betroffenen Menschen:

  • Chirurgische und/oder medikamentöse/hormonelle Eingriffe sind zu unterlassen, so lange ihnen keine lebensbedrohliche Indikation zugrunde liegt.
  • Kosmetische Eingriffe dürfen nur mit ausdrücklicher informierter Einwilligung der betroffenen Menschen unter vollständiger zu dokumentierender schriftlicher Aufklärung erfolgen.
  • Die Eltern sind vollumfänglich und wahrheitsgetreu aufzuklären; analog gilt für die betroffenen Menschen selbst eine stufenweise, altersgerechte Aufklärung über ihre Besonderheit.
  • Die behandelnden Mediziner haben den betroffenen Menschen über alle gegenwärtigen und zukünftigen Risiken von Eingriffen sowie bei deren Unterlassung vollumfänglich schriftlich aufzuklären. Dies gilt insbesondere bei Entfernung hormonproduzierender Organe und daraus resultierenden medikamentösen Hormonersatztherapien.
  • Die behandelnden Mediziner haben den betroffenen Menschen bzw. deren Eltern unaufgefordert bei Entlassung eine vollständige Kopie der Patientenakte auszuhändigen.

Schaffung verbindlicher „Standards of care“ unter Einbezug der betroffenen Menschen und ihrer Organisationen:

  • Bildung von spezialisierten Kompetenzzentren zur Behandlung intersexueller Menschen.
  • Ausbildung von auf Intersexualität spezialisierten Fachkräften.
  • Bildung von Beratungsteams für Eltern bei Fällen von Intersexualität, bestehend aus Medizinern, Psychologen und betroffenen Menschen sowie betroffenen Eltern („Peer Support“).
  • Bildung von Beratungsteams für betroffene Menschen, bestehend aus Medizinern, Psychologen und betroffenen Menschen („Peer Support“), welche diese von klein auf kontinuierlich unterstützen.
  • Flächendeckende Einrichtung von Beratungsstellen für betroffene Menschen und Angehörige, die paritätisch mit nicht betroffenen Spezialisten und betroffenen Menschen besetzt sein müssen.
  • Besondere finanzielle und strukturelle Förderung geeigneter Selbsthilfegruppen.
  • Einsetzen geeigneter betroffener Menschen als Beobachter von Studien zur Intersexualität.
  • Umfassende Evaluierung von Wirkungen und Machbarkeit der verschiedenen nach Kastration notwendigen lebenslangen Hormonersatztherapien nach den individuellen Bedürfnissen und Wünschen der betroffenen Menschen (Testosteron, Östrogen oder beides), sowie unter Berücksichtigung des Lebensalters (ggf. Eintrag der Indikation in die Zulassung des jeweiligen Medikamentes).

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Aufnahme von Intersexualität in die Lehrpläne der Schulen und Berufsausbildungen:

  • Das Thema „Geschlechtsdifferenzierung und Varianten“ wird an allen Schulen Bestandteil der Lehrpläne in Biologie, Sexualkunde und in den sozialen Fächern.
  • In der Ausbildung sämtlicher medizinischer und sozialer Berufe, z.B. von ÄrztInnen, Hebammen, Krankenschwestern, PflegerInnen, PsychologInnen, LehrerInnen, KindergärtnerInnen, SozialarbeiterInnen etc., wird Intersexualität verpflichtender Bestandteil des Lehrplans.

Entschädigung und Rehabilitation geschädigter Betroffener:

  • Einrichtung eines Hilfs- und Entschädigungsfonds für Betroffene. Der Fonds soll alimentiert werden durch a) den Staat als politisch Verantwortlicher für die Fehlbehandlungen und b) die für die Fehlbehandlungen konkret verantwortlichen ärztlichen Standesorganisationen, zum Beispiel der Endokrinologen, Urologen, Gynäkologen, Kinderchirurgen.
  • Generelle Aufstockung der Rentenbeträge aller Betroffenen, die Opfer der Medizin geworden sind, auf das durchschnittliche mittlere Rentenniveau mit der Begründung, dass Intersexuellen durch Traumatisierung und gesundheitsschädigende Hormonbehandlung Zeit für ihr berufliches Fortkommen genommen wird.
  • Rentenrechtliche Regelung für intersexuelle Menschen allgemein und spezielle Regelung für von geschlechtszuweisenden Zwangsmaßnahmen Betroffene.
  • Einrichtung eines Rehabilitationsplanes und eines entsprechenden Zentrums zur Wiederherstellung der körperlichen Gesundheit soweit als möglich.
  • Befreiung von Zuschlägen bei Krankenversicherungsbeiträgen und jeglichen Zuzahlungen.
  • Erstellung einer Tabelle zur Feststellung des durch die Behandlung/Nichtbehandlung/ Falschbehandlung verursachten Grades der Behinderung.
  • Eröffnung und Förderung eines besonderen Zugangs betroffener Menschen zu Bildungs- und Weiterbildungsmaßnahmen zum Zwecke des Ausgleichs der durch die Gesellschaft erlittenen Suppressionen der sozialen und beruflichen Kompetenz (REHA).
  • Rechtsanspruch auf Feststellung der erlittenen Schäden durch ein unabhängiges, noch zu definierendes Gremium, falls frühere Behandlungs-/Befundsberichte nicht mehr zu beschaffen sind.

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Einarbeitung des Begriffes „Intersexualität“ in geltendes Recht:

  • Bei Neugeborenen mit uneindeutigen Geschlechtsmerkmalen erfolgt beim Standesamt ein lediglich provisorischer Geschlechtseintrag (analog zum Preussischen Landrecht, unter gleichzeitigem Verbot medizinischer Behandlungen ohne eingewilligte Zustimmung der betroffenen Menschen wie unter 1) beschrieben). Geschlechtsneutrale Vornamen sind zulässig.
  • Betroffene Menschen haben die Möglichkeit, ab Erreichen der Einwilligungsfähigkeit per Willenserklärung eine Änderung des eingetragenen Geschlechts und/oder Vornamens zu erwirken. Falls von der betroffenen Person gewünscht, sind nunmehr auch kosmetische Eingriffe mit informierter Einwilligung der betroffenen Menschen zulässig.
  • Für den Geschlechtseintrag wird als dritte Option „zwischengeschlechtlich/intersexuell/ zwittrig“ eingeführt.
  • In die Definitionsfindung, bei welchen Diagnosen dieses Verfahren zutrifft, sind die betroffenen Menschen und ihre Organisationen angemessen mit einzubeziehen.
  • Die Verjährungsfristen bei nicht eingewilligten Eingriffen werden aufgehoben, da durch die vielfach dokumentierte vorsätzliche Zurückhaltung der Krankenunterlagen und Verheimlichung der Diagnosen die üblichen Verjährungsfristen in der Regel verpasst werden. (Hinfällig bei Einrichtung eines Fondsmodells wie unter 1) beschrieben, an welchem Ärztevereinigungen sich beteiligen.)
  • Umfassender Schutz für intersexuelles Leben, auch des ungeborenen Lebens. Intersexualität allein darf kein Abtreibungsgrund sein.