Ergebnisse der Follow Up-Studie Hoenes, Januschke, Klöppel 2019

20. Februar 2019

Die aktuellen Ergebnisse der Follow Up-Studie zur Häufigkeit normangleichender Operationen „uneindeutiger“ Genitalien im Kindesalter (Hoenes, Januschke, Klöppel 2019) fordern sofortiges Handeln auf rechtlicher, politischer und gesellschaftlicher Ebene

Auf Grundlage der ersten, von Dr. Ulrike Klöppel 2016 veröffentlichten statistischen Sekundäranalyse der fallpauschalenbezogenen Krankenhausstatistik (DRG-Statistik), die sich auf den Erhebungszeitraum 2005 – 2014 bezieht, erweitert diese am 01.02.2019 von der Ruhr Universität Bochum veröffentlichte Follow Up-Studie (Erhebungszeitraum 2005 – 2016) den Erkenntnisgewinn, welche insbesondere die Notwenigkeit der sofortigen Umsetzung der bereits deutlich formulierten Forderung der rechtlichen Regelung eines Verbotes von kosmetischen Operationen an intersexuellen Kindern unumgänglich macht1, so dass an diesen Kindern in nicht-einwilligungsfähigem Alter der Schutz der Menschenrechte sichergestellt wird2.

Diese vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) geförderte Studie, die sich mit der Fragestellung beschäftigt, ob ein Rückgang der Häufigkeit feminisierender oder maskulinisierender Genitaloperationen an Kindern unter zehn Jahren zu verzeichnen ist, bei denen aus medizinischer Sicht eine „Inkongruenz“ der Genitalien, Gonaden oder Geschlechtschromosomen vorliegt, wurde unter Federführung von Dr. Josch Hoenes, Dr. Eugen Januschke, Dr. Ulrike Klöppel durchgeführt.

Nachdem einerseits 2007 die Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin (DGKJ) sich zum ersten Mal distanzierend zu rein kosmetisch begründeten Eingriffen äußerte und der Deutsche Ethikrat 2012 sowie die Bundesärztekammer 2015 deutlich zur Zurückhaltung bei der Indikationsstellung für Genitalplastiken im Kindesalter sowie zu einem Aufschub solcher Eingriffe bis zur Einwilligungsfähigkeit des/ der Betroffenen mahnten (sog. full consent policy)3, und andererseits die 2016 veröffentlichte Behandlungsleitlinie „Varianten der Geschlechtsentwicklung“4 fordert, dass Indikationen zu normangleichenden Geschlechtsoperationen restriktiv zu stellen sind, und in ihrer Präambel unter anderem postuliert, dass Varianten der Geschlechtsentwicklung keine Krankheit sind, so dass folgerichtig nicht über deren Heilbarkeit nachzudenken notwendig ist, sowie dass das altherkömmliche dichotome Menschenbild zu überprüfen und zu erweitern ist, ließ schlussfolgern, dass in den vergangenen rund zehn Jahren die Häufigkeit feminisierender oder maskulinisierender Genitaloperationen an Kindern unter zehn Jahren abgenommen hat.

Untermauert wurde diese Schlussfolgerung durch die in der Follow Up-Studie aufgeworfene Hypothese, dass die Gesamtzahl der Genitaloperationen bei VG-Diagnosestellung (VG = Varianten der Geschlechtsentwicklung) abnimmt, sofern die geforderte restriktive Indikationsstellung befolgt wird und folglich Genitaloperationen wegen psychosozialer Gründe ausgeschlossen würden.

Beide Expertisen der Jahre 2016 und 2019 widerlegen allerdings diese theoretische Schlussfolgerung sowie Hypothese, was die Follow UP-Studie in der Darstellung ihres Gesamtergebnisses verdeutlicht: Die Häufigkeit feminisierender oder maskulinisierender Genitaloperationen an Kindern unter zehn Jahren ist im Verhältnis zur Zahl der Kinder mit Diagnosen des Spektrums der „Varianten der Geschlechtsentwicklung“ (VG-Diagnosen) zwischen 2005 und 2016 relativ konstant geblieben. Für das Jahr 2016 belegt die Studie Ergebnisse, die verdeutlichen, dass die Häufigkeit sogar über dem Mittelwert des Erhebungszeitraumes gestiegen ist (Mittelwert der Anzahl der jährlichen OP: 1871, Anzahl der OP 2016: 2079).

Somit bestätigen die Ergebnisse beider Studien die Beobachtungen in den Beratungs- und Selbsthilfegesprächen innerhalb der selbsthilfezentrierten Versorgungsangebote des Bundesverbandes Intersexuelle Menschen e.V. und überraschen nicht.

Ergänzend ist bei Betrachtung der Follow Up-Studie zu erwähnen, dass die Häufigkeit „maskulinisierender“ Genitaloperationen im gesamten Erhebungszeitraum durchgehend um ein Vielfaches höher war als die Häufigkeit feminisierender Genitaloperationen; im Jahr 2016 wurden 2033 „maskulinisierende“ Genitaloperation im Verhältnis zu 46 feminisierenden Genitaloperationen durchgeführt (entspricht dem Faktor: 44,2).

Allein dieser Sachverhalt wirft für den Bundesverband Intersexuelle Menschen e.V. weitere bestürzende Fragen auf, die hypothetisch mit kulturellen und religiösen Kontexten und Überzeugungen auf Seiten der verantwortlichen Ärzt_innen sowie der betroffenen Eltern/Erziehungsberechtigten korrelieren (können). Für eine Bestätigung oder Widerlegung dieser Hypothese bedarf es allerdings weiterführender Studien.

Die beunruhigenden Ergebnisse beider Studien verdeutlichen eindrücklich, dass dringender Handlungsbedarf auf rechtlicher, politischer und gesellschaftlicher Ebene besteht, und lässt somit unumgänglich Forderungen unterstreichen, für die der Bundesverband Intersexuelle Menschen e.V. sich intensiv und engagiert auf Landes- und Bundesebene einsetzt, um Kinder mit intergeschlechtlichen Potenzialen vor nicht notwendigen medizinischen Maßnahmen zu schützen, ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit zu wahren sowie diesen Kindern ein geschütztes und selbstbestimmtes Erwachsenwerden und Leben zu garantieren:

1. rechtliche Regelung eines sofortigen Verbotes von kosmetischen Operationen an Kindern mit einer VG-Diagnose5, die Grenzen setzt und somit Sicherheit schafft;
2. flächendeckende Unterstützungs- und Beratungsangebote für intersexuelle/intergeschlechtliche Menschen (durch Peer-Beratung und durch interdisziplinäre Teams6);
3. flächendeckende Unterstützungs- und Beratungsangebote für Eltern/Erziehungsberechtigte7;
4. Erweiterung der medizinischen Kompetenzzentren um institutionalisierte professionelle Beratung8, auch für die behandelnde Ärzteschaft9;
5. umfassende Öffentlichkeitsarbeit mit dem Ziel eines offeneren und toleranteren gesellschaftlichen Umgangs mit geschlechtlicher Vielfalt;
6. Berücksichtigung und Implementierung der Intergeschlechtlichkeit im Rechtswesen;
7. Berücksichtigung und Implementierung der Intergeschlechtlichkeit in Aus- und Weiterbildung;
8. Stärkung der Vertretungsstrukturen auf Bundesebene mit einer vorübergehenden geschlechtergerechten staatlichen Förderung.

1 vgl. Sabisch, Studie „Intersexualität in NRW“ 2017.
2 vgl. Third International Intersex Forum 01.12.2013.
3 vgl. Deutscher Ethikrat 2012: 174; vgl. Bundesärztekammer 31.01.2015.
4 vgl. Deutsche Gesellschaft für Urologie et al. 07.2016: 6 (AWMF-Leitlinie 174/001).
5 Umsetzung und Anwendung der Kinderrechtskonvention in Deutschland, Rechtsgutachten im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 25.09.2017, Seite 8: „Art. 3 Abs. 1 KRK begründet jedenfalls eine objektive Pflicht staatlicher Stellen, bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, das Kindeswohl vorrangig zu berücksichtigen. Dies ergibt sich aus dem Normtext, der die staatlichen Akteure als Verpflichtete anspricht.“.
6 vgl. Ergebnis der Expertendiskussion zur Konsensus-Konferenz in Chicago 2005, vgl. AWMF-Leitlinie 174/001.
7 vgl. Ergebnis der Expertendiskussion zur Konsensus-Konferenz in Chicago 2005, vgl. AWMF-Leitlinie 174/001.
8 vgl. Sabisch 2017.
9 vgl. Hoenes et al 2019.

Link zur Studie:

https://omp.ub.rub.de/index.php/RUB/catalog/book/113

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