Stellungnahme: Gesetz zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung
Am 22. Mai 2021 trat in Deutschland ein Gesetz in Kraft, für das intergeschlechtlich geborene Menschen mehrere Jahrzehnte lang gekämpft hatten. Operationen und Behandlungen an intergeschlechtlichen Kindern sind jetzt nur noch erschwert möglich. In dieser Stellungnahme gehen wir detailliert auf Stärken und Schwächen des neuen Gesetzes ein und weisen auf notwendige Verbesserungen hin.
Mit dem „Gesetz zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung“ folgt Deutschland anderen Ländern, wie beispielsweise Malta, in denen Operationen schon seit einigen Jahren verboten sind. Die Bundesrepublik Deutschland erfüllt durch das Gesetz Verpflichtungen, die sich aus internationalen Abkommen ergeben, wie beispielsweise der UN-Kinderrechtskonvention und der Frauenrechts-konvention CEDAW. Außerdem trägt das Gesetz dazu bei, die Grundrechte von intergeschlechtlich geborenen Menschen in Deutschland zu wahren. Das Gesetz ist daher ein längst überfälliger Schritt in die richtige Richtung. Inwiefern das Gesetz ausreichend ist, die bisherige Praxis, Kinder bereits in jungen Jahren an ein männliches oder weibliches Normgeschlecht anzugleichen, gänzlich zu stoppen, wird sich erst in einigen Jahren zeigen. Die im Gesetz festgeschriebene Evaluation innerhalb von fünf Jahren halten wir daher für sehr sinnvoll. Schwachstellen können frühzeitig erkannt und behoben werden. Dadurch wird unnötiges Leid verhindert.
Grundsätzlich dürfen Sorgeberechtigte nach §1631e BGB nun nicht mehr in eine Behandlung bei einem Kind mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung einwilligen, die ausschließlich dazu dient, das Geschlecht des Kindes an ein weibliches oder männliches Normgeschlecht anzupassen. Sie dürfen außerdem eine solche Behandlung nicht selbst durchführen. Damit sind Operationen, aber auch andere Behandlungsformen verboten, außer sie erfolgen aufgrund von akuter Lebensgefahr. Außerdem können Operationen, die nicht allein dazu dienen, den Körper des Kindes an ein weibliches oder männliches Normgeschlecht anzupassen, durch das Familiengericht erlaubt werden, wenn sie dem Wohl des Kindes am besten entsprechen. Obwohl das Gesetz einige positive Maßnahmen umfasst, haben wir Problembereiche ausgemacht, auf die wir im folgenden Abschnitt detailliert eingehen werden: Schutzrahmen des Gesetzes, Einwilligungsfähigkeit des Kindes, Einbindung von Peerberatung, Auslandsumgehung, fehlendes Zentralregister und Kostenübernahme für die Stellungnahme.
1. Schutzrahmen des Gesetzes
Der neue §1631e im BGB ist überschrieben mit den Worten: „Behandlung von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung“. Damit wird bereits in der Überschrift festgelegt, dass das Gesetz für Kinder mit „Varianten der Geschlechtsentwicklung“ gelten soll. Der Begriff „Varianten der Geschlechtsentwicklung“ ist auch in §45b PStG zu finden. Es handelt sich dabei um einen aus der Medizin entlehnten Begriff, der rechtlich nicht einheitlich definiert ist, wie Debatten über die Möglichkeit der Personenstandsänderung in der Vergangenheit gezeigt haben. Weiterhin handelt es sich nicht um eine statische Begrifflichkeit. Was medizinisch als „Variante der Geschlechtsentwicklung“ angesehen wird und was nicht, ist veränderbar. Durch die enge Anlehnung des Gesetzes an medizinische Begrifflichkeiten und die aktuell gültige Behandlungsleitlinie, kann es sein, dass aktuell Kinder unter den Schutz des Gesetzes fallen, aber zukünftig nicht mehr, weil ihre „Diagnose“ nicht mehr zu den „Varianten der Geschlechtsentwicklung“ gezählt wird. Die Bundesregierung erkennt dieses Problem in den Anmerkungen zum Gesetzesentwurf sogar selbst an, schafft es aber nicht, eine hinreichende Lösung zu präsentieren. Damit bleibt es wieder gesellschaftlichen Interessengruppen überlassen, sich darum zu bemühen, dass der Schutzrahmen des Gesetzes nicht in absehbarer Zeit verändert oder noch stärker verwässert wird.
Eine weitere Problematik, die sich aus der Uneindeutigkeit des Begriffs, verbunden mit einer mangelhaften Ausbildung im medizinischen Bereich ergeben kann, ist, dass eine „Variante der Geschlechtsentwicklung“ bei einem Kind nicht als solche erkannt wird, sondern eine einfache „Fehlbildung“ diagnostiziert wird. Kinder ohne eine Diagnose aus dem Bereich „Varianten der Geschlechtsentwicklung“ können weiterhin ohne gesonderte Überprüfung operiert werden. Das kann unter anderem auf Kinder zutreffen, deren Hypospadie als isolierte Fehlbildung diagnostiziert wurde, ohne zu überprüfen, ob es sich um eine Variante der Geschlechtsentwicklung handelt. Medizinische Behandlungsleitlinien sind nicht verbindlich und eine gesetzliche Regelung, die bei bestimmten medizinischen Diagnosen eine Differentialdiagnostik vorschreibt, wäre sinnvoller gewesen. Der Schutzrahmen des Gesetzes hätte so deutlich verbessert werden können. Die Überprüfung des Gesetzes in spätestens fünf Jahren sollte dazu genutzt werden, in diesem Bereich Verbesserungen anzustreben.
2. Einwilligungsfähigkeit des Kindes
Das Gesetz schützt explizit „nicht einwilligungsfähige“ Kinder vor irreversiblen Behandlungen. Auf eine starre Altersgrenze wurde bewusst verzichtet, da aus den Stellungnahmen zum Referentenentwurf aus 2020 kein einheitliches, zu empfehlendes Alter herauszulesen war. Die Bundesregierung geht im Erläuterungstext zum Gesetzesentwurf davon aus, dass bei Kindern unter 10 Jahren nicht von einer Einwilligungsfähigkeit ausgegangen werden kann, bei Jugendlichen unter 16 Jahren kann die Einwilligungsfähigkeit mehr oder weniger vorhanden sein. Die Regelungen in § 1631e BGB werden also hauptsächlich bei kleinen Kindern zur Anwendung kommen. Das Gesetz enthält keine Regelungen dazu, wer überprüft, ob ein Kind einwilligungsfähig ist oder nicht. Die Möglichkeit besteht, dass ein Kind einwilligungsfähig erscheint und sich, auch aufgrund des gesellschaftlichen Normierungsdrucks, zu einer Operation entschließt, die es später bereut oder die Folgeoperationen nach sich zieht. Eine externe Überprüfung der Einwilligungsfähigkeit des Kindes oder die Verpflichtung zu einer unabhängigen (Peer-)Beratung wären aus unserer Sicht zumutbare Hürden gewesen.
3. Einbindung von Peerberatung
Wenn sich Eltern dazu entscheiden, die gerichtliche Zustimmung für eine Operation einzuholen, stehen ihnen zwei Wege offen. Zum einen ist dies ein schriftliches Verfahren, für das eine Stellungnahme einer Expert*innenkommission benötigt wird und zum anderen besteht die Möglichkeit eines ordentlichen Gerichtsverfahrens mit Anhörung verschiedener Sachverständiger. Die Zusammensetzung der Kommission ist gesetzlich geregelt. Begrüßenswert ist, dass ein*e unabhängige*r Ärzt*in Teil der Kommission sein muss und ein*e Psycholog*in oder Psychiater*in. Außerdem müssen die Mitglieder bereits Erfahrungen im Umgang mit Patient*innen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung gesammelt haben. Ein*e Peerberater*in kann auf Wunsch der Eltern ebenfalls mit in die Kommission geholt werden. In der Stellungnahme der Kommission ist außerdem festzuhalten, ob eine Peerberatung stattgefunden hat. Dies ist eine deutliche Stärkung der Peerberatung im Vergleich zum Kabinettsentwurf aus dem September 2020, der lediglich einen Hinweis vorschrieb. Bei einem ordentlichen Gerichtsverfahren hingegen muss weiterhin nur auf Beratungsmöglichkeiten hingewiesen werden. Eine einheitlichere Regelung wäre hier sinnvoller gewesen. Auch über eine verpflichtende Peerberatung für Eltern und Kind im Vorfeld einer Operation sollte bei der Evaluation des Gesetzes nachgedacht werden. Erfahrungswerte zeigen, dass Eltern und Betroffene sehr von einer Peerberatung profitieren.
4. Auslandsumgehung
Im Gesetz sind keine klaren und verbindlichen Vorschriften bezüglich im Ausland erfolgter Operationen vorgesehen. Um zu vermeiden, dass jene Operationen, die in Deutschland nun nicht mehr oder nur erschwert möglich sind, im Ausland durchgeführt werden, hätte es eine Aufnahme ins StGB gebraucht.
5. Fehlendes Zentralregister
Ein Zentralregister, in dem Patient*innenakten verwahrt werden, war im Gesetzgebungsprozess eine häufige Forderung. Die Länder betonten noch vor der ersten Lesung im Bundestag seine Notwendigkeit und auch mehrere Sachverständige forderten in der Anhörung im Januar 2021, dass ein Zentralregister geschaffen werden muss. Aus Zeitgründen ist dies bisher nicht erfolgt. Wir sehen das Register als zentrales Element des Gesetzes an, denn nur durch das Register kann sichergestellt werden, dass Patient*innenakten auch auffindbar bleiben. Die Praxis zeigt, dass intergeschlechtliche Menschen oft in verschiedenen Krankenhäusern behandelt werden und ihnen häufig der rechtmäßige Zugang zu ihrer Akte durch fadenscheinige Begründungen verwehrt wird. Ein Zentralregister würde das Auffinden von Akten extrem erleichtern, die Evaluation vereinfachen und das Umgehungspotential des Gesetzes erheblich abschwächen. Wir fordern die Einrichtung eines Zentralregisters, in dem die Akten von allen Menschen , die in ihrer Kindheit am Genital operiert oder behandelt wurden und/oder die eine diagnostizierte „Variante der Geschlechtsentwicklung“ haben, verwahrt werden. Dieses Zentralregister muss zu Beginn der nächsten Legislaturperiode geschaffen werden.
6. Kostenübernahme für die Stellungnahme der Kommission
Das Gesetz sieht keine klare Regelung für die Übernahme der Kosten vor, die durch die Erstellung der Stellungnahme entstehen. In den Anmerkungen zum Kabinettsentwurf steht, dass es sich bei der Erstellung einer Stellungnahme nicht um eine ärztliche Leistung handelt und die Kosten für diese daher von den Eltern getragen werden müssten[1]. Die Bundesregierung reagierte ablehnend auf einen Vorschlag der Länder, die Stellungnahme kostenfrei zu gestalten. Als Begründung wurden die dafür notwendigen, tiefgreifenden gesetzlichen Änderungen angeführt[2]. Bei der anstehenden Evaluierung soll überprüft werden, ob eine Regelung zur Kostenübernahme sinnvoll ist. Wir erwarten, dass die Bundesregierung die nächsten fünf Jahre dazu nutzt, diese gesetzlichen Änderungen in die Wege zu leiten, damit wirtschaftlich starke und schwache Familien nicht ungleich behandelt werden. Familien mit intergeschlechtlichen Kindern müssen oft weite Strecken zurücklegen, um eine geeignete medizinische Betreuung zu bekommen. Die Kosten einer Stellungnahme sind daher als zusätzliche finanzielle Belastung anzusehen. Die Möglichkeit eines Gerichtsverfahrens zur Vermeidung der kostenpflichtigen Stellungnahme stellt für uns keine Alternative dar, deshalb braucht es eine Kostenübernahme.
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Wir freuen uns über die Bereitschaft der Bundesregierung, sich der Belange von Menschen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung anzunehmen. Die Verabschiedung des vorliegenden Gesetzes ist ein Schritt in die richtige Richtung zur Verwirklichung der Menschenrechte für alle. Die Menschenrechte wurden in der Bundesrepublik Deutschland als Grundrechte festgeschrieben und es sollte die oberste Pflicht der Bundesregierung sein, diese zu schützen und dort herzustellen, wo sie noch nicht im Einzelnen gesetzlich geregelt sind.
Intergeschlechtliche Menschen selbst sind Expert*innen, wenn es um eine sinnvolle Regelung zu ihrer Behandlung geht. Sie können Aspekte aufzeigen, die in der noch binär denkenden Gesellschaft von Menschen aus binären Geschlechtern nicht wahrgenommen werden. In die weitere Ausgestaltung des Gesetzes bringen wir uns daher gerne ein.
Der Vorstand
[1] Deutscher Bundestag (2020): Entwurf eines Gesetzes zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung (Drucksache 19/24686), S. 22. Online abrufbar unter: https://dserver.bundestag.de/btd/19/246/1924686.pdf
[2] Deutscher Bundestag (2020): Entwurf eines Gesetzes zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung (Drucksache 19/24686), S. 45. Online abrufbar unter: https://dserver.bundestag.de/btd/19/246/1924686.pdf
Die Stellungnahme ist hier als PDF abrufbar.