Expert_innen: Nachbesserungen für mehr Kinderschutz dringend erforderlich
PRESSEMITTEILUNG | 21.01.2020
Gesetz zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung
Am 13. Januar 2021 diskutierten acht Sachverständige im Rechtsausschuss des Bundestags im Rahmen einer öffentlichen Anhörung über das „Gesetz zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung“. Durch das Gesetz sollen die Rechte von intergeschlechtlichen Kindern gestärkt werden. Behandlungen und Operationen, die eine Angleichung an ein weibliches oder männliches Normgeschlecht zur Folge haben können, sollen ohne ihre Einwilligung nur noch eingeschränkt möglich sein. Die Mehrheit der Sachverständigen war der Ansicht, dass der Gesetzesentwurf generell zu begrüßen ist, aber erhebliches Verbesserungspotential aufweist.
Der Entwurf sieht vor, dass Operationen, die nicht aus einer akuten medizinischen Notwendigkeit heraus erfolgen, zukünftig durch das Familiengericht genehmigt werden müssen. Prof. Dr. Katharina Lugani (Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf) kritisierte den Schutzrahmen des Gesetzes als zu gering. Im Vergleich zum Referentenwurf aus dem Februar 2020 ist es nach dem aktuellen Entwurf beispielsweise nicht mehr notwendig, Operationen nachträglich genehmigen zu lassen, die zur Abwendung von Lebensgefahr erfolgen.
Die Genehmigung für Operationen kann, laut Entwurf, durch eine positive Stellungnahme einer interdisziplinären Kommission in einem verkürzten Verfahren eingeholt werden. Claudia Kittel (Deutsches Institut für Menschenrechte) merkte an, dass ein solches Verfahren ohne Verfahrensbeistand und ohne Anhörung des Kindes bedenklich sei. Die Zusammensetzung der Kommission sollte nach Ansicht der Expert_innen ebenfalls überdacht werden. Prof. Dr. Katinka Schweizer (Medical School Hamburg) schlug beispielsweise vor, die Leitung der Kommission einer unabhängigen Person zu übertragen. Mehrere Sachverständige forderten, die Kommission um eine_n Medizinethiker_in zu erweitern. Für eine unabhängige Entscheidungsfindung sei es weiterhin notwendig, dass die Kommissionsmitglieder aus unterschiedlichen Krankenhäusern kommen. Die Kinder-Endokrinologin Prof. Dr. Annette Richter-Unruh (Ruhr-Universität Bochum) forderte, dass Operationen nur nach zwei kommissionellen Stellungnahmen erlaubt sein sollten, die im Abstand von sechs Monaten erstellt wurden. Mehrere Sachverständige regten zudem an, dass eine unabhängige Beratung der Eltern (und des Kindes) Voraussetzung für die Genehmigung eines Eingriffs wird und sprachen sich für ein generelles Verbot von „Bougieren“ als Behandlungspraxis aus.
Bessere Evaluierung durch bundesweites Zentralregister
Ein weiterer wichtiger Punkt in der Debatte war die Einführung eines Zentralregisters, für die sich ebenfalls mehrere Sachverständige aussprachen. Prof. Dr. Konstanze Plett (Universität Bremen) und Dr. Ulrike Klöppel (Humboldt-Universität zu Berlin) machen in ihren Stellungnahmen konkrete Vorschläge für die Inhalte eines solchen Registers und betonen zudem die Wichtigkeit des Registers für die angestrebte Evaluierung. Die Evaluierung soll nach ihrer Ansicht nicht erst nach zehn Jahren, sondern bereits früher erfolgen. Sie betonten außerdem, dass die Verjährungsfristen im Straf- und Zivilrecht bei Verstößen gegen das Gesetz entsprechend angepasst werden müssen, um eine Strafverfolgung ermöglichen zu können.
Abweichende Meinungen vertraten Dr. Oliver Blankenstein (Kinderendokrinologe an der Charité Berlin) und Wiebke Pühler (Bundesärztekammer). Blankenstein zweifelte die Zugehörigkeit des Androgenitalen-Syndroms (AGS) zu Varianten der Geschlechtsentwicklung an und forderte, dass eine bestimmte Behandlungsform weiterhin erlaubt sein müsse: Die Korrektur eines Sinus urogenitalis. Wiebke Pühler argumentierte, dass sich der medizinische Konsens in den vergangenen Jahren gewandelt habe und Operationen an intergeschlechtlichen Kindern heute nicht mehr leichtfertig durchgeführt werden. Wiebke Pühler zufolge sollte daher zunächst überprüft werden, ob die aktuelle Behandlungspraxis bei den betroffenen Kindern auch im späteren Leben auf Zustimmung stößt. Prof. Dr. Annette Richter-Unruh hingegen betonte die Notwendigkeit des Gesetzes, da die aktuell gültigen Behandlungsleitlinien nicht verbindlich seien.
Selbstvertretungsorganisation ist positiv gestimmt, fordert aber Nachbesserungen
Intersexuelle Menschen e.V. begrüßt die vielen konstruktiven Vorschläge, die im Rahmen der Anhörung gemacht wurden, um die Rechte von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung zu stärken. Wir sind positiv gestimmt, dass die Erkenntnisse der Anhörung bei den zuständigen Politiker_innen zu neuen Einsichten geführt haben, die nun zeitnah zu Änderungsanträgen der Fraktionen führen werden. Der Schutz von noch nicht einwilligungsfähigen Kindern vor genitalverändernden Operationen ist zu priorisieren. Wir möchten besonders die Notwendigkeit einer verpflichtenden, unabhängigen Beratung der Eltern (und des Kindes) vor einer Operation betonen. Die Einführung eines bundesweiten Zentralregisters, in dem alle Operationen an den Genitalien von Kindern erfasst und aufbewahrt werden, ist zwingend erforderlich. Wir möchten zudem darauf hinweisen, dass auch die Umgehung des Gesetzes durch den Gang ins europäische Ausland verboten werden muss.
Die Selbstvertretungen intergeschlechtlich geborener Menschen verbinden mit diesem Gesetz die Wahrung des Rechts auf körperliche und seelische Unversehrtheit und die Wiederherstellung der Menschenwürde. Das Gesetz kann für intergeschlechtliche Menschen die Freiheit schaffen, selbst entscheiden zu können, wie sie leben wollen. Intersexuelle Menschen e.V. erwartet ein eindeutiges Zeichen an die Gesellschaft, um deutlich zu machen, dass genitalverändernde Operationen an nicht-einwilligungsfähigen Kindern nicht leichtfertig durchgeführt werden dürfen.
Der Vorstand
Kontakt: vorstand@im-ev.de
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